Badischen Zeitung vom 14.1.2012

Bilder ohne Ende

Die ungewöhnlichen Landschaftsstreifen des Zeichners Raffi Kaiser im Freiburger Morat-Institut.

Die Zeichnung wird Landschaft: eine Felswand als Paravent Foto: volker bauermeister


So viel Bild war selten im Freiburger Morat-Institut. Bilder über Wände und Wände. Bilder ohne Ende. Doch keine anmaßende Demonstration von Bildmacht. Die Ausstellung, von der wir berichten, entzieht sich dem von Fülle verwöhnten Betrachter vielmehr. Sie fordert. Raffi Kaiser, der 80-jährige, in Jerusalem geborene, seit langem in Paris lebende Künstler, ist Zeichner. Der spröde Bleistift (gern im größten Härtegrad) und die Feder sind sein Handwerkszeug. Sein Zeichnen gibt dem leeren Papier Geltung. Dem weißen Flächengrund als Raum. Raumzeichnung ist sie. Aufgezeichnete Stille, könnte man auch sagen.

Ein lang ausgerolltes Papier aus den frühen 1980er Jahren bezeichnet die Wende. Raffi Kaiser war Maler gewesen, dann ging er in die Wüste und hörte damit auf. Die Wüste Negev machte ihn zum Zeichner. Den Strich seines Bleistifts sehen wir sich selbst umkreisen, verflüchtigen, verstärken, sich zu Schatten verdichten und mittendrin, wie von selbst, zur Gestalt finden. Was da an einer langen Wand in Freiburg hängt, ist Zeichnung und Landschaftsbild. Die Wüste mit ihrer Leere, ihrer Einsamkeit, ist ein naheliegender Ort, um sich zu finden. Und ein Sujet, um ein Bild auf sich selbst zurückzuführen. Was Kaiser von der Wüste zu Papier bringt, ist zeichnerische Struktur.

Reiseberichte sind seine Zeichnungen nicht. Aber Berichte vom Reisen, die sich Blatt für Blatt zu Panoramen fügen. Reisen, recht verstanden – und dem entgegen, was wir als Konsumenten gewöhnlich im Urlaub tun, ist ja auch eine Art, im Andern aufzugehen. Dem spürt Kaiser mit den Sensoren Stift und Feder nach. Von unterwegs bringt er Skizzen und Erinnerungen mit – und spinnt dann im Atelier am Pariser Montparnasse das alles weiter. Als Zeichner ein Reisender.

In China war er, Japan, Griechenland, Italien . . . Eben kam er aus Kambodscha zurück. In einer der drei Hallen, die ihm das Morat-Institut jetzt öffnet, hängt – neben Vulkanschloten und einer Wüstenschlucht, vis-à-vis einem Paravent, einer mit Feder und Sepiatusche gezeichneten Felswand – ein Doppelblatt, das auf eine Floßfahrt auf dem Colorado River zurückgeht. Steile Felswände bezeichnen eine Flucht in die Tiefe, einen Raum, der sich öffnet. In der Nahsicht zeigt sich die Zeichnung selbst, der zwischen informell und konstruktiv oszillierende Strich, in der Distanz die soghafte Anziehung des Raumes. So hält uns dieser Zeichner an, uns zu bewegen.

In den Bildern wandern die Linien, gleitet das Auge Geländekanten und Gebirgskämme entlang und sieht unter sich buchtenreiche Seen und Meerlandschaften sich unendlich weiten. Wie Felsenwände sich in Vorhänge verwandeln, sieht es, und wie die sich öffnen. Und das unverwurzelte Ragen von Felszacken auch. Wie aus dem Nichts.

Eine Halle ist den Panoramen griechischer Landschaft gewidmet: 16 Blätter machen summa summarum je zwölf Meter Landschaftsfluss. Eingeschlossen die Meteoraklöster auf ihren Felsensockeln, dies griechische Monument Valley, in dem sich Natur und Baukultur vereinen. In einem gezeichneten Streifen schroffer griechischer Küste sind Häuser wie Nester in die Felsflanken gefügt, man sieht sie kaum – und soll das auch gar nicht. Was den Zeichner fortlaufend beschäftigt, ist dies Bild der Einheit, nicht der Einzelheit.

Und so leer wie vorher nie scheint die Welt aus Graphismen im großen Zyklus "Voyage des Voyages". Da ist nicht mehr ein Landstrich die "Vorlage". Nichts mehr zum Bau der Erde gesagt. Statt Tektonik zeichnerisches Sfumato. Spätestens hier auf dieser "Reise der Reisen", da der Reisende ausholt und von der Wüste gleich nach Griechenland kommt und von den Gipfeln zum Meerhorizont gleitet, wird klar, dass er die Welt als unteilbar ansieht. Sein Alles-ist-eins ist in der gezeichneten Form kein Gemeinplatz.

Ein Raum, der sich öffnet: gezeichnet nach einer Floßfahrt auf dem Colorado River, 2004 Foto: bauermeister


Es sieht so aus: Ein Bergrücken schiebt sich ins Bild, daran schließt sich im Fluss und stetigen Wechsel Landschaft an. Einmal steigt ein Weiß so an, dass man an Schneefeld oder Gletscher denkt, dann weitet sich eine Bucht und Hänge treten wieder heran. Felszähne sind wie die Steine im gleichmütig geharkten Feld des japanischen Zen-Gartens. Man macht die Weite daran fest, die alles einschließt.

Die allesamt im vergangenen Jahr gezeichneten 88 Blätter überfordern in der Reihe fast jeden Schauraum, und selbst auch eine der großen Morat-Hallen, wie man sieht. Ein Bergmassiv hat, abgesprengt, im Vorraum Platz gefunden. Da findet der unglaubliche Bildstreifen sein nachgezogenes offenes Ende. Dem Katalog, der noch im Frühjahr erscheinen wird, mit Texten unter anderem von Markus Brüderlin, der Kaiser in seiner Ausstellung "Japan und der Westen" im Kunstmuseum Wolfsburg zeigte, und der Zürcher Japanologin Katharina Epprecht, werden wir eine DVD beigelegt finden: Raffi Kaisers "Voyage des Voyages" als Film. Und wirklich: Diese Landschaft ist nichts anderes. Ein Film ist sie, in dem die Welt der Bildraum und der Raum der einzige Handelnde ist. Wer das betrachtet, fühlt sich klein – aber nicht kläglich. Eher leicht und beweglich. Er wird um die Weite reicher.

– Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Lörracher Str. 31, Freiburg. Bis Dezember, Samstag 11–18 Uhr und nach Vereinbarung: 0761/476 5916.

Nach oben