Badischen Zeitung vom 20. September 2011
25 JAHRE TSCHERNOBYL
Der entfesselte Prometheus
"EXPEDITIONEN. 25 JAHRE TSCHERNOBYL" I:
Die Ausstellung "Die Straße der Enthusiasten" in Freiburg
zeigt Fotos und Dokumente.
Von Volker Bauermeister
Foto von Robert Polidori: Kindergarten in Prypjat, 2001 Foto: polidori/morat-institut
Am 26. April 1986 explodierte der Block 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl. Die Ausstellung mit dem irritierenden Titel "Die Straße der Enthusiasten", Baustein im Veranstaltungsgefüge "Expeditionen. 25 Jahre Tschernobyl", erreicht Freiburg nun nach einer schon längeren Reise: Berlin, Kiew, Warschau, Brüssel, Wendland. Walter Mossmann, Liedermacher, Autor, Anti-AKW-Aktivist, ist der Motor des Ganzen, und viele sind mit im Boot. Auch Ethnologen aus Freiburg und der ukrainischen Partnerstadt Lemberg. In Freiburg im Augustinermuseum wird zum Jahresende zu sehen sein, was verloren ging: wie mit der Katastrophe eine bäuerliche Kultur verschwand. "Die Straße der Enthusiasten" im Morat-Institut zeigt, wie es heute ist in der verstrahlten "Zone". Und führt zurück in die Vorgeschichte.
Totalitarismus des Fortschritts
In eindrücklich statischen Raumbildern beschreibt der kanadische Fotograf Robert Polidori die verlassene Lebenswelt im Sperrbezirk. Nur eine einzige nicht menschenleere Szene: im Kontrollraum im Kernkraftwerk. Dann legt sich die Kamera auf die aufgegebene Atomstadt Prypjat fest: Kindergarten, Schule, Sporthalle. . . Und keine Zeit heilt die Wunden (sagt Mossmann). Als die fast 50 000 Bewohner der Kraftwerk-nahen Retortenstadt aufgerufen wurden zu gehen, 36 Stunden nach der Havarie, war von drei Tagen die Rede. Nicht erst nach diesen 25 Jahren weiß man, dass 300 Jahre kaum ausreichen würden, um wiederzukommen. Man ging von einem Moment auf den andern. Die Häuser blieben, wie sie waren: starre Rahmen, die Polidori dann ins Bild setzt. In dem von den Strahlenflüchtlingen hinterlassenen Leerraum tobten sich Zerstörungswut und Habgier aus. Die kläglichen Reste einer Ordnung wirken wie Aberwitz. Und diese Farben – ihre Schönheit schmerzt wie Hohn. Manche hält man für giftig. Natürlich: Man deutet, wenn man das ansieht.
Die Geschichte der Technik-Euphorie: Filmplakat "Enthusiasmus, Donbass Symphonie", 1931
Bei Polidori macht Lakonie die Raumporträts eindringlich. Andrej Krementschouk dagegen, der heute in Leipzig lebende Fotograf, schaut sich um, erzählt. Wie Menschen sich einrichten, wo man nicht mehr leben kann. Und zum Beispiel von dieser Frau – "Kassandra", sagt Eva Morat –, die mit ausgebreiteten Armen ein Bild der Hoffnungslosigkeit verkörpert. Ein Wandgemälde in einem von Polidoris Räumen erinnert an den nun längst zerplatzten Traum: Eine Hohe Priesterin, schlank wie eine Säule, lässt zwischen weit geöffneten Armen ein Paradies entstehen. Darüber spannt sich ein Regenbogen, breit lacht eine Sonne. Die Priesterin ist Kassandra in einem sowjetischen früheren Leben.
Der GAU hat den Heilsglauben als Groteske entlarvt. Als Prypjat starb, war es ganze 16 Jahre. Pompeji war immerhin älter, als der Vulkan es auslöschte. "So blitzartig hat kein anderer Ort gelebt", schreibt Juri Andruchowytsch, der ukrainische Schriftsteller, zum "verbitterten Jubiläum". Sein Text spielt im Titel auf die Apokalypse des Johannes an. Und Andruchowytsch zitiert Walter Mossmann: "unvergleichliche Installation". Ja, das heutige Prypjat wird wohl die perfekte Illustration einer Ästhetik des Schreckens sein. Im Morat-Institut ist nun auch zu sehen, was einmal war. Dies unaufhörliche Strahlen der Menschen, das auf einem Bildschirm kaum Platz hat. Die historischen Filmbilder behaupten ein ewiges Vorwärts und Aufwärts. Sie "muss weiter wachsen und wachsen" – die "neugeborene Stadt", so hört man. Sie dachten, dass alles geht. Prometheus, der Menschheitsbeglücker, ist die Symbolfigur des Geistes, der Städte wie Prypjat baute. Der Totalitarismus des Fortschritts suchte in ihm seinen Ahnherrn. Dass der Philosoph Hans Jonas noch vor dem GAU erklärte, der "entfesselte Prometheus" rufe nach einer Ethik, nach "freiwilligen Zügeln" – um nicht "dem Menschen zum Unheil zu werden", daran erinnert die Bild-Text-Schau auch. Sie legt Wert darauf, zu sagen, dass der Machbarkeitswahn nicht bloß eine Krankheit des Ostens war. "Sicher, sauber, unentbehrlich, unerschöpflich", besang man die Atomkraft auch hierorts.
Wie aus Monumenten Monster wurden
In ihrer Fortsetzung im Alten Wiehrebahnhof bebildert die Ausstellung den Widerspruch dazu: in den ökologischen Plakaten, die der Grafiker und Hochschullehrer Oleg Veklenko dann seit 1991 auf den Triennalen in Charkiv zusammenbrachte. Das Morat-Institut dagegen blendet über Prypjat zurück bis in die leuchtend rote Traumwelt früh-sowjetischer "Enthusiasten". Die "Straße der Enthusiasten", die Prypjat mit dem Kraftwerk verband, sollte die Erinnerung wach halten an diese Glaubensbrüder des sozialistischen Fortschritts. Wladimir Majakowskij, seinerseits Schwärmer, schrieb 1929 – im Jahr bevor er sich das Leben nahm – sein "Wir". Ein volltönender, dröhnender Aufruf zur Arbeit, in dem sich das mythische Fundament von Tschernobyl-Prypjat enthüllt: der moderne Energiekult. "Stromfabriken" sollten seine Kathedralen sein. Die freundlichen Sonnen an den Hauswänden von Prypjat haben in Majakowkijs strahlender "Sowjetsonne" ihr Vorbild. Von der Erfüllung Atomkraft wusste der Dichter noch nichts. Doch er singt schon ihr Loblied: "Groß wie Monumente/werden sein/unsere Krautköpfe/unsere Mohrrüben. . ." Das erinnert unwillkürlich an die Fische, die Walter Mossmann dann im Strahlengebiet sah. Aus den Monumenten der Enthusiasten sind Monster geworden.
– Morat-Institut, Lörracher Str. 31, Freiburg. Bis 29. Oktober, tägl. 10–17 Uhr.
– Alter Wiehrebahnhof Urachstr. 40. Mo 18–1 Uhr, Di, Do, Fr, So 15–1 Uhr, Mi 13.30–1 Uhr, Sa 9–1 Uhr.